Sie wusste aus Erfahrung: Nicht nur Pullover, Blusen, Hosen, die Zahnbürste und was man halt so braucht, einpacken, wenn man verreist, sondern auch mehrere Lagen Humor.
Mit der örtlichen Kleinbahn erreichten sie Düsseldorf. Gleich würde es losgehen, der Stress der vergangenen Tage seine eigenen Wege gehen. Abschalten. Den Urlaub schon unterwegs beginnen. Aus dem Fenster schauen, gedankenlos, belanglose Gedanken. Ungeordnet, einfach so. Doch Alice sollte bald bemerken, dass es einfach gar nicht werden würde.
Düsseldorf. Sie bemerkte, ihr Mund stand offen. Schnell schloss sie ihn. Was die Anzeigetafel ihr mitteilen wollte, wollte sie nicht glauben: Voraussichtliche Verspätung des ICE 7506 nach Stralsund ca. eine Stunde. Wir bitten um Ihr Verständnis.
Fähre ade, das war es jetzt ja wohl. „Sollen wir wieder nach Hause fahren?“ Sie hatte Henriette fast vergessen. „Nein, das stehen wir jetzt durch, wir werden schon irgendwann ankommen. Nerv du jetzt nicht auch noch. Die Insel schwimmt uns nicht davon. Da kommen wir hin, ist nur eine Frage der Zeit.“ Und des Umwegs, wie sie später feststellen musste.
Eine ältere Dame fragte einen Schaffner, ob die Möglichkeit bestehe, dass der Zug eher käme. „Möglich ist alles“, antwortete der Gefragte. Alices Gedanken äußerten sich laut. „Die Bahn macht´s möglich.“ Die Fahrt nach Plan schien es nicht mehr zu geben, vielleicht hatte sie nie Bestand gehabt. Es gab die sonderbarsten Geschichten, die sie sich anhören sollte, aber nicht wollte. Das war hier im Moment gar nicht lustig. Ähnliches hatten sie schon im letzten Jahr erlebt. Zugfahren glich offensichtlich mittlerweile einem Lotteriespiel. Oder: Er liebt mich, er liebt mich nicht. Komme ich an oder komme ich nicht an. Düsseldorf-Stralsund-Hiddensee. Das war aber auch eine unüberschaubare Strecke. Da konnte schon mal etwas auf der Strecke bleiben. Und doch war es dieses Jahr extremer, interessanter. Alice bemerkte, wie sie ihren Humor auspackte. Gut, dass sie ihn mitgenommen hatte.
Als sie endlich im Zug auf ihren Plätzen saßen, das immerhin hatte geklappt, fanden sich beide damit ab, in Stralsund übernachten zu müssen. Sie schmiedeten sogar Pläne, was sie dort tun und sehen wollten. Wieder die quäkende, näselnde Stimme einer Durchsage. War das ein Comedybeitrag oder die Realität. Das beste Beispiel, wenn man das Gefühl hatte, sich sprichwörtlich in einem falschen Film zu befinden. Die englische Version verkündete das Gleiche: „Dieser Zug endet in Greifswald. Fahrgäste, die nach Stralsund wollen, haben die Möglichkeit in Rostock ihren Anschlusszug nach Stralsund zu erreichen.“ Sie hatte also richtig gehört. Wenn Alice da schon gewusst hätte, dass wirklich nur die Möglichkeit bestehen würde...Das war keine Erholung. Hatte sie überhaupt schon mal aus dem Fenster geschaut. Seele baumeln lassen...Traumgespinst. Das Leben ist kein Wunschkonzert.
In Rostock angekommen, erreichten sie den Anschlusszug, indem sie über die Treppen gesprungen waren. Keuchend presste Alice hervor: „Gute Trainingseinheit. Humor verlass mich nicht.“- Lauter dann: „Ich hab´mir das nicht ausgedacht.“ Nun stand sie vor dem Zug, Henriette und einige andere Reisende folgten ihr. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Ein Pfiff. - Der Zug rollte langsam los, entglitt schnell ihrem Blick, der dann drei unschuldige Schaffner fixierte. Unschuldig, so wollten sie jedenfalls aussehen. Drei! Die nichts sagten. Alice dafür umso mehr.
Die Schaffner beruhigten keineswegs sie oder die sichtlich ungläubig aussehenden Passagiere, die sie sein wollten, aber nicht sein durften. Was war das jetzt wieder.
Sie hätten keine Information bekommen, konstatierten die Schaffner nur. „Wie geht es jetzt weiter?“ - „ Das ist nicht unsere Zuständigkeit.“
Das wurde ja immer besser. Ihr Humor wurde langsam sarkastischer, bemerkte Alice. Einer der drei nicht Zuständigen hatte ein Tablet in der Hand. Sollte sie jetzt tatsächlich ihr eigenes heraus kramen. War ja nicht sein Zuständigkeitsbereich, wie er betont hatte. Und so sollte es tatsächlich weiter gehen. Oder auch nicht. Aufenthalt hier in Rostock eineinhalb Stunden.
Irgendwann erreichten sie ihr Ziel. - Irgendwann!
Henriette und Alice genossen ihre geliebte Insel, die fast schon zu einem Stück ihrer Heimat geworden war. Das Wetter wieder ein Traum, den sie fast nicht zu fassen bekamen. Was sie da Schönes erleben durften, begriffen sie erst in der Erinnerung, als sie zu Hause waren. Das besondere Erlebnis dieser Bahnfahrt erwähnten sie auf der Insel mit keinem Wort. Da war er wieder, der Humor. Darüber waren sie sich einig, dafür war es auf ihrer Insel einfach zu schön, um sich mit solchen Dingen abzulenken.
Für Ablenkung sorgte die Rückfahrt dann tatsächlich.
Als ihr Zug wieder mal einen Bahnhof verließ, piepste ihr Handy. Verspätungsalarm: Der Zug hält nicht in Düsseldorf. Um Ihr Ziel zu erreichen, steigen Sie in Hannover um...
Wo waren sie hier überhaupt inzwischen? Beim Blick aus dem Fenster konnte Alice gerade noch das Bahnhofsschild erkennen: Hauptbahnhof Hannover. Langsam entglitt der Bahnhof ihrem Blick. Der Zug wurde schon schneller. „Ja super, Henriette, ich schubs dich jetzt raus, schmeiß dir das Gepäck hinterher und spring´ dann auch noch hinterher.“ Henriette guckte sie stirnrunzelnd an. Auch die Mitreisenden hoben ihre Köpfe. „War ein Witz. Das hier glaubt uns keiner!“
© geertjens
Zum Vaihinger Bahnhof sollte es gehen. Sie wusste, warum sie zu ihrem Fahrer sagte, dass man ruhig etwas früher losfahren könne. Die Fahrt zur Aufführung des Musicals „Das Phantom der Oper“ im Stuttgarter Palladium Theater vor einigen Jahren zeigte immer noch eine nachhaltige Erinnerung.
„Von mir aus kann´s los gehen“, verkündete der Fahrer. Erleichterung. Beruhigend war es. 'Alles Roger. Es ging also wirklich los. Alles easy', dachte sie.
Weit gefehlt. Sie war mit einem *Eisele unterwegs. Da wurden die Karten neu gemischt.
As Trumpf! - Der Rasierschaum kam ins Spiel.
Ihr Fahrer fuhr auf einen Parkplatz. Sie schaute. Das war definitiv nicht der Bahnhofsvorplatz. „Fahren wir nicht erst zum Bahnhof?“, fragte sie vorsichtig. Jetzt kam sie doch ins Staunen. Sie hatte keine Vorstellung, wie weit es noch bis zum angestrebten Ziel war. Wenn sie da schon gewusst hätte, was ihr noch bevorstand, hätte sie gesagt: „Lass uns bitte sofort weiterfahren!“ Worum ging es hier eigentlich bei diesem Zwischenstopp? Das rauschte blitzschnell durch ihre Gedankengänge.
Blitzschnell musste sie dann noch tatsächlich sein. Eigentlich wollte sie keinen Marathon mehr laufen und Sprints waren noch nie ihr Ding gewesen.
Rasierschaum! Was hörte sie da? „Ich geh hier eben zum DM. Das liegt grad auf dem Weg. Da kann ich mir noch meinen Rasierschaum besorgen.“ Er ging, sie saß im Wagen. Sie guckte auf die Uhr. Das wurde jetzt doch knapp. Die Nerven musste man erst mal haben. Die erste Zeit zwang sie sich, nicht dauernd auf die Uhr zu gucken. Es wurde jedoch immer enger, und da war der Blick auf die Uhr Programm. In diesem Film wollte sie eigentlich nicht mitspielen, keine Rolle übernehmen.
Das ersehnte Käppi, nachdem sie Ausschau gehalten hatte, erschien. Und mit ihm der dazugehörige Mann. Sie sah ihn in der Schlange vor der Kasse stehen. ´Der hat echt die Ruhe weg`, sie glaubte es kaum. Aber das hier war pure Realität. Endlich kam er zum Wagen. Sie wäre gerannt. Aber das war *Eisele! Er stieg ein. Sie sagte nichts. Stille. Sie kurvten über den Parkplatz des Einkaufcenters. „Wo ist denn hier die Ausfahrt?“, murmelte der Fahrer. Seilchenspringen. Nervengerüst. Gummitwist. Sie konnte ein leichtes Schnaufen nicht verhindern. „Sitzt du auf Kohlen?“ - „Ich sitz´ noch auf ´was ganz anderem.“ Die vibrierenden Nerven zeigten Wirkung. Keine Zeit. Der Zug!
„Du bist keine *Eisele“, der Mann besaß tatsächlich Nerven, die sie nicht hatte. „Nee, ´ne Jürgens, eindeutig.“ Aber eine Jürgens brauchte man für diese Situation nicht sein. Das wünschte sich niemand. In Gedanken sah sie schon die Rückleuchten des Zugs. Und wenn der Zugbegleiter nicht Goodwill gezeigt hätte, hätte sie diese auch gesehen.
Bahnhofsvorplatz. An Abschied war nicht mehr zu denken. Der blieb auf der Strecke. Sie würde sich aktiv an einem kleinen Wunder beteiligen müssen, wollte sie nicht zur Gefährtin des Abschieds werden. So quetschte sie nur ein „Tschüss. Danke“ heraus und flog mit ihrem schnell geschnappten Gepäck davon. Fliegen können, das wäre die Lösung gewesen.
Der überdachte Gang zum ersten Treppenabsatz wollte nicht enden. Endlich der Treppenaufgang zum Gleis 7. Es galt zwei oder drei lange Treppenaufstiege zu bezwingen. Sie hetzte die Treppen so schnell hinauf, sie hatte später keine Erinnerung mehr daran. Running mit Hindernisparcours. Der Koffer in der einen Hand, Rucksack auf dem Rücken, kleine Tasche umgehängt, wurden zur weiteren Steilvorgabe. ´Treppen. Guck genau. Fall nicht.´ Das ging ihr durch den Kopf. Von Stürzen und Brüchen wollte sie nichts mehr wissen.
Bahnsteig. Geschafft. Der Zug stand da. Eigentlich klar. 11.55 Uhr. Planmäßige Abfahrt. Wer auch da stand, war der Zugbegleiter. Bereit zum Abpfiff. Die Kelle war schon oben. Zug ade. Eine Frau signalisierte dem Schaffner mit ihrer Hand und dem Fuchteln ihrer Arme, dass da noch jemand käme. Der Mann schüttelte den Kopf. Mit seinen Schultern signalisierte er: Pech! Der dachte wahrscheinlich: ´Leute, ihr wollt doch, dass die Bahn besser funktioniert. Ihr tut auch das Eure, das es nicht klappt.´ Schnell ging die Hand mit der Kelle wieder nach unten und er gab dem Zugführer irgendwelche undefinierbaren Zeichen. Egal, Hauptsache der Zug fuhr nicht an. Schnaufend wie eine Dampflok erreichte sie den letzten Wagen und den Bahnangestellten. Der nahm ihr den Koffer ab. Wackelnd betrat sie die erste Stufe des Wagens des IC, der sie heim bringen sollte. „Entschuldigung, ich bin etwas knapp gebracht worden“, keuchte sie und bekam die Worte fast nicht raus.
Knapp. Sie konnte es immer noch nicht glauben, was geschehen war. Mit einem *Eisele nie mehr, wenn etwas pünktlich zu erreichen galt. Aber waren wirklich alle *Eiseles so? Der Hals ganz trocken, die Augen feucht, das Herz pochte gegen die Brust. Nur langsam wurde der Atem ruhiger. Das, was sie nicht mehr für möglich hielt, war geschafft. Sie befand sich im Zug. Jetzt brauchte sie nur noch die Wagen zu durchlaufen, um ihren Platz einzunehmen, den sie reserviert hatte. Nicht so leicht mit dem Gepäck vom letzten Wagen in Wagen Nr. 9 zu gelangen, der sich fast ganz vorne befand, jedoch zum vorher Erlebten ein Spaziergang. Immer noch sann sie dem Filmabschnitt nach, auf den sie gerne verzichtet hätte: ´Nächstes Mal mit Taxi! - Oder wieder mit *Anna.´ Die war auch eine Jürgens.
*Diese Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Die Namen der Beteiligten wurden geändert. Die ungewollte Protagonistin in dieser Glosse war ich selbst. Für Umleitungen ist nicht nur die Bahn gut, die Menschen sorgen auch selbst dafür!
Geertje Wallasch, geb. Jürgens
© geertjens
Claus Kühnel (Freitag, 09 Februar 2018 00:25)
Ihre Geschichte hat mir sehr gut gefallen.
Ich habe mal versucht unsere Eindrücken vom Winter auf Hiddensee in ein kleines eBook zu packen. Hat mir auch Freude gemacht.